Vor 30 Jahren kam der Jesuit Father Gregory Boyle als Priester nach Boyle Heights, jenem Stadtteil von Los Angeles, in dem schon damals die höchste Gang-Dichte der ganzen USA herrschte. Um der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit etwas entgegenzusetzen, gründete er Ende der 1980er-Jahre das Sozialunternehmen Homeboy Industries, das inzwischen monatlich von über 1000 Menschen aufgesucht wird und jährlich etwa 300 ehemaligen Gang-Mitgliedern den Rückweg ins Arbeitsleben ermöglicht.
Lassen Sie sich von der Sammlung der Erfahrungen Father Gregorys in diesem Ghetto der Armut und Gewalt berühren! Eingebettet in einen tiefen, reflektierten Glauben, erzählt »Father G« – wie ihn die Homies liebevoll nennen – von den bewegenden Begegnungen mit den Menschen dort, die sich wie spirituelle Parabeln über Hoffnung, Großzügigkeit, Trauer und unerschütterliche Nächstenliebe lesen. »Ins Herz tätowiert« erinnert uns daran, dass kein Leben mehr oder weniger wertvoll ist als ein anderes, und wie erfüllt unser Leben sein kann, wenn wir uns entscheiden, unter allen Umständen das Liebenswerte im anderen zu sehen.
Leseprobe:
Dolores Mission und Homeboy IndustriesIm Sommer 1984 und 1985 war ich jeweils Aushilfspfarrer der Dolores Mission Church, der ärmsten Gemeinde der Erzdiö-zese von Los Angeles. 1986 wurde ich dort Gemeindepfarrer. Eigentlich war geplant, dass ich an der Santa-Clara-Universität die Studentenseelsorge übernehme, doch in Bolivien veränderte sich alles. Ich kann nicht erklären, auf welche Weise mich die Armen in Bolivien in den Jahren 1984 bis 1985 bekehrten. Doch sie krem-pelten mein Innerstes nach außen, und ich hatte keinen anderen Wunsch mehr, als bei den Armen zu sein. Es war eine zutiefst selbst-süchtige Entscheidung. Ich spürte, dass ich durch sie einen ganz be-sonderen Zugang zum Evangelium bekam. Da war es nur natürlich, dass es mich zu ihnen zog. Als ich meinem Superior erklärte, ich wolle bei den Armen ar-beiten, schickte er mich statt nach Santa Clara in die Dolores-Mis-sion-Gemeinde. Ich war der jüngste Pfarrer in der Geschichte der Diözese. Die Kirche stand seit etwa vierzig Jahren mitten zwischen zwei Großprojekten des sozialen Wohnungsbaus aus den Vierzi-gern, Pico Gardens und Aliso Village. Zusammen bildeten sie das größte soziale Wohnungsbaugebiet westlich des Mississippi. Als ich dort anfing, gab es sieben Latinogangs und eine afroamerikanische (die Bevölkerung der Siedlungen war damals noch zu 25 Prozent afroamerikanisch, heute ist sie zu 99,9 Prozent lateinamerikanischer Herkunft).
Zu jener Zeit war Pico-Aliso der Bezirk mit der höchsten 17ten carne asadas und andere offene Zusammenkünfte, um deutlich zu machen, dass sie Gangmitglieder nicht als Feinde ansahen. Eine CEB lud sogar heimatlose Homies zum Thanksgiving-Dinner ein. Sie wollten den Gangmitgliedern zeigen: »Ihr seid unsere Söhne und Töchter, egal, ob wir euch in die Welt gesetzt haben oder nicht.«Ich erinnere mich an einen Sonntagmorgen, an dem ich nur einen Block von der Kirche entfernt an einer Polizeiabsperrung stehe. Auf dem Boden liegt ein Toter. Kopf und Oberkörper sind von einer Plane bedeckt, sodass nur die übergroßen, abgeschnittenen Dickies-Shorts, bis zu den Knien hochgezogene weiße Socken und blaue Nike Cortez sichtbar sind – das übliche Gangoutfit jener Zeit. Er stammt nicht aus der Siedlung, niemand weiß, warum er sich auf fremdes Territorium begeben hat. Pam McDuffy, eine sehr aktive Mutter unserer Gemeinde, tritt leise an mich heran und legt mir den Arm um die Taille. Sie weint. »Ich weiß nicht, wer das ist, aber auch der Junge war das Kind einer Mutter.«Schon bald begannen die Jungen und Mädchen aus den Gangs, in unseren Räumlichkeiten »abzuhängen«. Die Garage wurde zu einer Art Muckibude, und im Kirchturm hockten dauernd an die zehn Jugendliche zusammen, rauchten und vertrieben sich die Zeit. Solange sie hier sind, stellen sie nichts anderes an, dachte ich. Etliche Gemeindemitglieder waren jedoch nicht gerade begeistert von dem Arrangement. Das Grummeln nahm so zu, dass ich schließlich eine Gemeindeversammlung einberufen musste. Der Gemeindesaal war rappelvoll. Mir war vollkommen klar, es würde entweder auf ein Vertrauensvotum für mich hinauslaufen, oder sie würden mir den Laufpass geben. Ich ergriff nicht das Wort. Das war auch nicht nötig, es reichte, dass die Wortführerinnen der Gemeinde, Teresa Navarro und Paula Hernandez, sich erhoben und von Jesus sprachen. »In dieser Gemeinde helfen wir den Leuten aus den Gangs, denn das würde Jesus auch tun.«
Autorenseite