Statt uns schwächen und zermürben zu lassen, gilt es jedoch, die Energien nicht zu bewerten, sondern sie uns nährend und stärkend zunutze zu machen. Jede Bürde oder Angst, jeder Schmerz wird damit zu einer reichen Quelle der Kraft.
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Leseprobe:
Die Kunst, sich selbst zu ertragen
Die Frage war nicht, ob, sondern wann ich mich umbringen würde. Die Vorstellung, mein jämmerliches Leben zu been-den, begleitete mich seit vielen Jahren, saß morgens vor mir im Bus und legte sich abends mit mir ins Bett. Als Jugendlicher tat mir mein Körper permanent weh. Er schmerzte, als würde ich von unsichtbaren Mächten gefoltert, bestraft für etwas, dessen ich mich nicht entsann oder dessentwegen ich mich schuldig fühlte. Einfach zu leben, einen Körper zu haben, der atmet und Nahrung braucht, war eine Qual. Die Welt schien mir lieblos und fade zugleich. Es gab keinen Ausweg und keine Entschädigung für die sinnlose Folter des Lebens, ausgenom-men die hohlen Versprechungen und Drohungen der Religion.Halb lachend, halb weinend sann ich jeden Morgen über meinen Selbstmord nach. Er war mein Ausweg in dieser aus-sichtslosen Situation, der kleine Hoffnungsschimmer am finsteren Firmament, aber auch der erhabene Trotz, die innere Haltung, sich nicht allem, was mir das Leben zumutete, beu-gen zu müssen.Nachts quälten mich Albträume. Von unheimlichen Ge-stalten verfolgt, wachte ich schweißnass auf oder konnte gar nicht erst einschlafen. Ich hatte einen Schmerz in mir, so tief vergraben wie der erste Stein, einen Schmerz, der meine Seele in Ketten legte, meinen Körper stach und quälte und meine Sinne umnebelt hielt. Die Wunde meiner Seele war wie ein zugenähter Schrei, das hilflose Wimmern im Dunkeln, die Frage aller Fragen: Warum leide ich? Warum bin ich nicht im Himmel? Wieso tut Gott uns all dieses Leid an? Es kam der Moment, in dem das Leid, am Leben zu sein, größer war als die Angst vor dem Tod.Depressionen sind eine potenziell tödliche Krankheit. Zehntau-send Menschen sterben jedes Jahr daran, sich selbst nicht län-ger ertragen zu können. Jedes Jahr bringen sich mehr Menschen um, als insgesamt im Straßenverkehr, durch Mord, Totschlag und Drogen ums Leben kommen. Auch ich hatte Seelenkrebs im Endstadium und fühlte mich unfähig, mit mir weiterzule-ben.
Ich konnte mich nicht länger ertragen. Alles kostete mich dreimal so viel Kraft und dauerte dreimal so lange.Mein Todeswunsch wurde konkreter, das Ende fühlbar, und der Tod berührte meinen Körper im gleichen Maße gespens-tisch wie vertraut. Den Tod vor Augen, ging es mir besser. Das Ende meines Leidens kam in Sicht, und ich atmete auf. Beinahe glücklich – der Stimmung kurz vor dem Urlaub vergleichbar – ging ich durch diese meine letzte Woche auf Erden … Genau in dieser Woche erhängte sich ein Freund aus meiner Schule im Hof seiner Eltern. Es war für alle ein Schock. Jörg war ein beliebter Schüler gewesen. Nach außen schien sein Leben perfekt. Und doch wartete dieser Junge darauf, dass seine Familie das Haus verließ, damit er sich am Baum davor erhängen könnte. Er muss diesen Tag sorgfältig erwogen ha-ben. An diesem Tag war er allein. Seine Eltern würden bei der Rückkehr von einem Essen die Ersten sein. Den toten Körper seinen Eltern zu überreichen, ist ein grausames Geschenk; es ist eine stumme, endgültige Schuld-zuweisung. Die Hoffnung seiner Eltern restlos zu zerstören, war Jörgs Hoffnung. Der Sinn der Tat lag darin, den Sinn des Lebens zu zerstören. Wäre Jörgs eigene Hoffnung nicht rest-los zerstört worden, wäre dieser letzte Schritt niemals nötig gewesen.Ich verstand ihn so gut, dass ich erschauderte. Auch mein Leben schien nach außen hin perfekt: wohlhabende Eltern, ein akademisches Umfeld, eine gute Schule. Aber innerlich zerfraß mich die Lieblosigkeit, das fehlende Verständnis und Mitgefühl füreinander. Jeden Tag im Kleinen und Großen zu erleben, was Menschen einander antaten, tötete mich Stück für Stück. Ich zog mich immer weiter in mich selbst zurück. Nach dem Abitur suchte ich Zuflucht in der Kunst, fand aber keinen Halt. Die schönen Künste werden zum goldenen Käfig, der Elfenbeinturm zum verrottenden Gerippe, solange du mit der Welt nicht ausgesöhnt bist.
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