Was wir heute »Natur« nennen, nannten die germanischen Völker »Midgard«, Garten in der Mitte. Es ist der Wohnort für Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Winde und Wasser. Jenseits von Midgard ist Utgard, die Außenwelt. Dort wohnen die Riesen, Alben, Totengeister, Zwerge – und oberhalb davon die Götter. Zauberer – wir nennen sie heute Schamanen – waren die einzigen Menschen, die befähigt waren, ungestraft die Regionen Utgards zu bereisen.
Nicht aus Neugierde oder zum Vergnügen reisten sie über die Grenzen des Alltags und des alltäglichen Bewusstseins hinaus, sondern zum Schutz der Gemeinschaft, zum Auffinden heilender Kräfte oder zur Abwehr dämonischer Einwirkungen. In diesem Buch erzählt Wolf-Dieter Storl von persönlichen Erlebnissen mit Wesen, die ihm am Rande Midgards begegneten.
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Leseprobe:
Einführung:
An den Grenzen von Mittelerde
Erst wenn du in der Fremde bist, weißt du, wie schön die Heimat ist. Altes SprichwortIch weiß den Namendes Baumes nicht –aber sein Duft …! Bashó (1644–1694), japanischer Haiku-Dichter
Die Heimat der Seele. Objektiv gesehen gibt es sie gar nicht. Letzten Endes besteht alles aus Energie und Teil-chen. Irgendwann – das ist alles genauestens ausgerechnet wor-den – vor 14 Milliarden Jahren, nach einem Urknall, verdich-teten sich im expandierenden Weltall Wasserstoffwolken zu riesigen Fusionskraftwerken, die wir Sonnen nennen. Dann vor unvorstellbaren 4,6 Milliarden Jahren verschmolz kosmischer Staub und bildete die Trabanten dieser Reaktoren. Auf einem solchen Trabanten, der nach berechenbaren mechanischen Gesetzen den uns naheliegendsten Reaktor umkreist, entstan-den wir. Energetische Strahlung schoss ins Urmeer, Moleküle klumpten zusammen, fingen an sich zu vervielfältigen, wurden reaktionsfähig und dann – Bingo! – war Leben da und zuletzt Homo sapiens, die selbst ernannte »Krone der Schöpfung«, die über sich selber nachdenken und depressiv werden kann. Zum Glück gibt es, vor der endgültigen Implosion in die virtuelle Realität, realen Autoverkehr und betäubenden Alkohol, Sozial-arbeiter und Besserwisser, Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll, Gen-Mais und Drohnen. Ich denke, ich gehe lieber nach Hause.Der Garten in der MitteErdreich (althochdeutsch erdrihhi; angelsächsisch erthriki; alt -nordisch jarthriki) – so nannten unsere heidnischen Vorfahren die Wohnstätte der Menschen. Dieses Erdreich war zugleich die Heimat aller atmenden beseelten Wesen, der Tiere, der Vögel, der Fische, auch der Kräuter und Bäume, Moose und Farne, der Flüsse und Seen, der Wolken und Winde – kurz, alles das, was wir heute Natur nennen. Auch Midgard (altsächsisch mid-dilgard; althochdeutsch mittelgart), »der Garten in der Mitte«, »der mittlere, eingefriedete Raum« und Mittelerde (altenglisch middelerthe) sind weitere Begriffe, die einst unsere irdische Heimstätte bezeichneten. J. R. R. Tolkien hat übrigens in sei-nem Buch »Der Herr der Ringe« die Bezeichnung Mittelerdewieder aufgegriffen. Die Natur, Midgard, ist das Ergebnis eines göttlichen Ur-opfers. Deswegen ist die Erde heilig. Einst, am Anfang der Zeit, zerstückelten die Götter den Riesen Ymir, das erste Wesen, das sich aus dem Urnebel herausformte, und schufen aus seinem Leib unsere Welt: aus seinem Fleisch die Erde, aus seinen Kno-chen das Gestein, aus seinem Blut das Meer, die Seen und Flüs-se, aus seinem Haar die Pflanzenwelt, aus der grauen Hirnmas-se die Wolken und die Gedanken, die diese tragen. Midgard befindet sich in der Mitte zwischen Himmel und Unterwelt. Jenseits davon, jenseits der Meere, die den Erdkreis umspülen, befindet sich Utgard, die unwirtliche, öde, wilde Außenwelt, die von urgewaltigen Riesen und Trollen bewohnt ist. Diese Unholde sind oft den Menschen und Göttern feind-lich gesinnt.
Über Mittelerde wölbt sich der weite Himmel, wo die Asen, die Lichtgötter, ihre Reiche haben. Der Regen-bogen ist die Brücke nach Asgard, dem Wohnort der Götter. Jeder Gott hat da seine Halle oder seinen Bereich. Unterhalb von Midgard befinden sich weitere Welten, wie das düstere Ne-belheim (Nif lheim), in denen sich die meisten Toten aufhalten, oder das Schwarzalbenheim, wo Alben und Zwerge wohnen. Im Ganzen erkannten die Seher und Seherinnen neun Welten unterhalb und oberhalb von dem Garten in der Mitte:Weiß neun Heime, neun Weltreiche,des hehren Weltbaums Wurzeltiefen.> Ältere Edda, »Der Seherin Weissagung« (Völuspa, 2)Die neun – drei mal drei – Reiche sind in den meisten scha-manischen Kulturen bekannt. In Sibirien sind es die neun Äste (und Wurzeln) des Weltenbaumes, in denen die Götter und Geistwesen leben und auf denen der Schamane auf- und ab-steigt oder in Vogelgestalt fliegt. Das Bild des Weltenbaumes war auch den Germanen geläufig. Auf einer waagrechten Ebene kann man die neun Welten mit den acht Himmelsrichtungen verbinden, wobei sich Midgard in der Mitte befindet. (Rätsch 2005:44) Darum gruppieren sich, in verschiedenen Richtun-gen, die Heime (Bereiche) der »übernatürlichen« Wesen: das Schwarzalbenheim, das Riesenheim, das Asenheim, das Wa-nenheim, das Lichtalbenheim, das Helheim der Frau Holle; im Süden ist die Feuerwelt Muspelheim und im Norden das kal-te Nebelheim. Die Grenzen dieser Reiche überschneiden sich, und fixieren lassen sich diese Orte auch kaum. Überhaupt sollte man nicht meinen, es handle sich bei dieser Topografie um Orte, die sich im materiellen Raum lokalisieren lassen. Es ist auch nicht der primitive, vorwissenschaftliche Versuch, eines noch im mystisch irrationalen Denken befangenen Volkes, die Koordinaten der Weltkarte zu ermitteln. Es handelt sich eher um eine Lagebeschreibung verschiedener Bewusstseinsebenen oder Bewusstseinskontinente. Midgard beschreibt die praktisch vorhandene Wirklichkeit, die das Alltagsbewusstsein, die fünf Sinne und der Verstand erfassen können. Dass es jenseits von diesem alltäglichen Bewusstsein Be-reiche gibt, in welche die Seele sich hineinbegeben, unverhofft hineinfallen oder denen sie gar verfallen kann, war naturnahen Völkern, wie den Germanen, klar. Riesen, Zwerge, Alben, Drachen und andere mythische Wesen sind lediglich Bildsprache, um wirklich Erlebtes korrekt wiederzugeben. Die märchenhaf-ten, mythologischen Bilder schildern Wirklichkeiten. Es sind Wirklichkeiten, die ihrerseits zurückwirken auf das alltägliche Leben der Gemeinschaft und auf die Natur.
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