Shiva, “der Gütige”, ist nicht nur einer der vielen Götter. Er ist der Gott der Götter, der Urgrund allen Seins, die letzte und einzige Wirklichkeit. Die Welt und all ihre Geschöpfe entspringen seiner ekstatischen Meditation. Die unendliche, sich immer wandelnde Vielfalt der Schöpfung ist seine Shakti, seine weibliche Schöpferkraft.
Wie ein Kind, das sich in seinem Spiel verliert, verliert sich Shiva in seiner Lila, seiner tanzenden Shakti.
So kommt es, dass viele Geschöpfe – insbesondere jene, die in menschlicher Gestalt auf Erden leben – ihr wahres Shiva-Wesen vergessen. Ihr Spiel wird todernst. Gefangen sind sie in Illusion und Wahn (Maya). Doch dann kommt Shiva, ihr eigentliches Selbst, daher und befreit sie von dem Wahn und lässt sie wieder in die universelle Wonne eintauchen.
Von diesem Shiva, wie er in der Vision indischer Weiser und Seher gesehen und verehrt wurde, wollen wir hier erzählen. Auch von dem Kraut, das er vor allem liebt, von Ganesh, dem mächtigen Elefanten, und von Nandi, dem weißen Stier, von Shivas weiblicher Gestalt als Parvati, der Mutter des Universums, vom Berg Kailash, von Ego-Dämonen, die uns in leidvollem Wahn verfangen, und vielen anderen Wunderwesen.
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Leseprobe:
Einführung
Über Shiva ist relativ wenig geschrie-ben worden. Er offenbart sich weni-ger auf Papier, als dass er in den Her-zen derjenigen lebt, die ihn lieben. Ja, ihr Leben selber, mit all seinen irdischen Nöten und Freuden, ist seine »Schrift«. Seine Geschichten werden vor allem gelebt im Lebens-schicksal der Geschöpfe; sie werden mündlich weitergegeben und in Bildern und Gesängen dargestellt. Trotzdem gibt es Literatur zum Thema Shaivismus (Shivaismus). Diese in Sprache und Schreibweise oft schwer zugänglichen Pro-dukte haarspaltender Glasperlenspieler befinden sich in obskuren Journalen, die verstaubt in den Bibliotheksregalen indologischer Ins-titute liegen. Da wird hohe scholastische Kunst geübt. Da werden die beflügelnden Gedanken der shivaitischen Brahmanen Kashmirs fleißig diskutiert. Etwa die altehrwürdige »Lehre der Wiedererken-nung« (Pratyabhijna). Nach dieser Lehre hat der Mensch vergessen, dass alles, Erscheinungswelt, Seele und Geist, mit Shiva identisch ist. Das »Wiedererkennen« findet statt, wenn unser Geist die schein-baren Unterschiede, die Kraft seiner Shakti in Erscheinung treten, als Illusionen durchschaut. Shiva ist die einzige Wirklichkeit und das wahre Selbst. Diese Auffassung ist sehr nahe der auch im Wes-ten bekannten Advaita-Vedanta, jenes absoluten Monismus, den der große Philosoph Shankarachaya (788 – 820) lehrte.Andere gelehrte Bücher und Artikel befassen sich mit der süd-lichen Variante des Shaivismus, mit der Shaiva-Siddhanta. Diese postuliert weder die absolute Identität, noch die absolute Verschie-denheit von Gott, Seele und Welt. Diese Ansicht wird so zur Grundlage des Bhakti, sie ermöglicht die liebende Hingabe an die erwählte Gotteserscheinung (Ishta-Deva) und gipfelt in Prema-Bhakti, in der ständigen ekstatischen Liebe zu Gott, so wie er einem persönlich erscheint. Auch die europäischen Elfenbeinturmbewohner mischen sich in die Diskussion mit ein. Leider geraten sie mit dem Bild Shivas allzu leicht mit dem des judäo-christlich-islamischen Gottes in Konflikt. Gewöhnt an eine objektivierende, dualistische – man könnte fast sagen, schizophrene – Weltanschauung, bereitet es ihnen oft Schwie-rigkeiten, das Göttliche und das Selbst, das vermeintliche Gute unddas Böse, Licht und Schatten, Leben und Tod als Einheit zu sehen und in dessen dynamischer Dialektik Shivas unterhaltsames, dynamisches und zugleich imaginäres Spiel – Shivas Lila – zu erkennen. Aber wie gesagt, für die einfachen und oft analphabetischen Bau-ern, Hirten und Handwerker sind die Erwägungen der gelehrten Pandits doch nur kluge Wortfechtereien, blutlos und lebensfern. Die einfachen Menschen bleiben bei den Bildern und Märchen, die sie selber als ihre Wirklichkeit erleben. Vor allem ihren oft derben, saftig humorvollen, wenig schöngeistigen Erzählungen und hin-gabevollen Ritualen (Pujas) verdanke ich das, was in diesem Buch steht. Als ich das Buch der bekannten Indologin Bettina Bäumer schenkte, war sie nicht sonderlich begeistert: »Ihr amerikanischen Anthropologists seid zu salopp, zu verallgemeinernd, philosophisch stümperhaft; da geht die großartige Metaphysik unter!« Die große Gelehrte mag recht haben. Dennoch bin ich überzeugt, dass Bilder und bunte Geschichten dem Mysterium, der Wirklichkeit im Her-zen der Wirklichkeit, manchmal näher kommen als die gelehrten Erläuterungen. Professor P. J. Saher, Religionsphilosoph aus Bombay und Autor des renommierten Werkes »Evolution und Gottesidee« (Henn Verlag 1967), erwies mir die Ehre, mich nach der Lektüre dieses Buches aufzusuchen. Er wollte mir persönlich sagen, dass sei-ner Ansicht nach mit diesem Buch eine Lücke in der Indologie in Bezug auf Shiva geschlossen wurde. Auch dankte er, dass in dieser Diskussion das gemeinsame indoeuropäische Vermächtnis zur Spra-che kommen konnte.
Wanderung zur Quelle der ZeitDu bist formlos, auch wenn du Form besitzt, denn mit Hilfe der Maya nimmst du nach Wunsch unzählige Formen an. Du bist ohne Anfang, bist dennoch Anfang von allem. Du bist es, der die Welt erschafft, erhält und zerstört. Mahanirvana tantraVon seiner Vision überwältigt, stöhnte der gottestrunkene südin-dische Dichter Basavanna (12. Jh. n.u.Z.) auf: »Der Topf ist ein Gott; die Worfel ein Gott; das Wedel ein Gott; der Pflasterstein, der Kamm und auch der Geigenbogen ein Gott; der Scheffel und die Schnabeltasse ein Gott. Götter, Götter, überall Götter! Wo soll man da noch den Fuß hinsetzen können! Überall wo man hintritt, Götter!« Doch plötzlich dämmerte ihm die Einsicht: »Und dennoch gibt es nur einen Gott: Unseren Herrn der zusammenfließenden Flüsse!« Nicht von einem weiteren der unzähligen, vielgestaltigen Götter Indiens wollen wir hier erzählen, sondern von jener Mitte wollen wir künden, die die indischen Weisen in ihrer tiefsten Meditation erlebten, von jener Mitte, die alle Gegensätze in sich vereint, von dem Ozean, in den alle Flüsse münden und zu dem alle Strömun-gen zurückkehren. Indem wir uns mit Shiva befassen, loten wir die Tiefen der menschlichen Seele und die Weiten der Natur aus. Dieses verborgene Urbild der Urbilder wollen wir versuchen ein wenig mit dem fahlen Licht unseres Geistes zu beleuchten. Es handelt sich um ein Urbild, das auch uns zu schaffen macht und das uns von jenseits unseres rationalen Bewusstseins Impulse schickt, die wir oft nur mit Verwirrung, Schrecken und Grauen wahrnehmen. Wir haben es, um mit C.G.Jung zu sprechen, mit einem der ursprünglichsten Archetypen des kollektiven Unbewussten in seiner besonderen, euroasiatischen Ausprägung zu tun. Es ist aber nicht bloß eine tiefenpsychologische Entität, die uns hier beschäftigt, son-dern eine Wirklichkeit, die ebenso die »äußere« Natur durchpulst und gestaltet wie die »innere« unserer Seele und unseres Geistes. Das Urbild wirkt innen und außen und zugleich jenseits von beiden. Wie ein Blitzschlag muss es den Menschen in ferner paläolithischen Ver-gangenheit im Bewusstsein aufgeflackert sein. Es ließ sie ihrer selbst gewahr werden und enthob sie für immer dem Traumdasein des Tie-res. Dieses Bild blieb dem Menschen und seinen Nachfahren in die Seele eingraviert. Es wurde mit zahllosen Namen und Gesichtern belegt, mit vielen Merkmalen geschmückt, als Quelle aller Kräfte und Mächte anerkannt, als Ursprung der Götter verehrt. Es enthält den Hinweis auf das unaussprechliche Geheimnis unseres eigentli-chen Selbst.»Den aller Welt Kreis nie beschloss, der liegt in Marien Schoß, das ewig Licht geht da herein und gibt der Welt ein neuen Schein. «So haben wir dieses Mysterium in unserem Kulturkreis lange gefeiert. Wir leben jedoch in einem Zeitalter, das die Inder mit Recht als das dunkle, als das Kali Yuga bezeichnen. Es ist ein Zeitalter, in dem wir die Symbole, Namen und Merkmale des Heiligen kaum mehr verstehen, sogar missverstehen. Das weltliche Treiben, die alltägli-che Hast, Gier, Neid, die institutionalisierten Untugenden und die damit verbundene Angst, Verzweiflung und Verdrängung haben das Wunder, das diesem Urbild erstrahlt, vor unserem Auge verblassen lassen.In Indien hat sich das Urbild auf besondere Weise erhalten. Sorgfältig wurde es im Kultus gepflegt, mit tiefsinnigen und lusti-gen Geschichten, Legenden und Sagen umrankt und bis in unsere Tage überliefert. An diesem wohlgehüteten Feuer der indischen Gottesschau wollen wir unsere Fackel neu anzünden, um damit in die eigenen Tiefen zu steigen, an dem schnaubenden, giftspeienden, schwellenhütenden Drachen und Riesen vorbei, durch die Reiche der listigen Zwerge, der betörenden Elfen, der Ahnen- und Toten-geister, der Gottheiten, bis wir in der Schatzkammer unserer Seele das Kleinod des Selbst entdecken, das die Hindus Shiva, den Gnädi-gen, den Wohlwollenden nennen.Das Geschenk der Inder an die Menschheit ist ihre zähe Fähig-keit, Erinnerungen wach zu halten und zu bewahren. Die indische Kultur und Seele gleichen dem Himalaja, in dessen Ablagerungs-schichten die Versteinerungen der Lebewesen aus vergangenen Urmeeren zu erkennen sind. In der Komplexität und Vielschich-tigkeit der südasiatischen Gesellschaft lassen sich alle Stadien der menschlichen Entwicklung erkennen.
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