Der Geist enthält die Samen seines eigenen Erwachens – Samen, die wir hegen und pflegen können, um die Früchte eines bewusst gelebten Lebens hervorzubringen. »Achtsamkeit – eine Anleitung zum Erwachen« von Joseph Goldstein enthält die Weisheiten aus vier Jahrzehnten des Lehrens und Praktizierens.
Jedem, der sich dem achtsamen Leben und dem Erwachen zu innerer Freiheit verschrieben hat, kann dieses Buch als ein lebenslanger Begleiter dienen. .
Leseprobe:
Einleitung
Achtsamkeit ist eher ein gewöhnliches Wort. Es hat nicht das spirituelle Prestige von Worten wie Weisheit, Mit-gefühl oder Liebe und ist erst in letzter Zeit mehr in den allge-meinen Sprachgebrauch eingegangen. In meiner Jugend in den 1950ern hatte ich das Wort nie gehört. Die 1960er-Jahre hatten ihr ganz eigenes Vokabular. Erst Anfang der 1970er kam der Begriff der Achtsamkeit auf. Es begann damit, dass immer mehr Leute in Meditations-Retreats von diesem Konzept – und der Praxis – erfuhren. Durch Programme wie MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction, Achtsamkeitsbasierte Stressminderung), MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie), Achtsamkeitsprogramme in Schulen, an Uni-versitäten und in Unternehmen sowie durch Forschungsprojekte in modernen Laboren der Neurowissenschaft gewann das Potenzial, welches dieser Fähigkeit des Geistes zur Präsenz, zur Wahrneh-mung des gegenwärtigen Geschehens innewohnt, immer mehr an Glaubwürdigkeit und Interesse. Um nur ein Beispiel zu geben: Allen Patienten des »Duke In-tegrative Medicine«-Programms der Duke University werden die Beziehung zwischen Körper und Geist sowie das Konzept der Achtsamkeit vorgestellt. Der Gründer des Programms, Jeffrey Brantley, M.D., sagte: »Achtsamkeit bildet die Grundlage von al-lem, was wir tun. Wir glauben, je achtsamer Menschen angesichts gesundheitlicher Herausforderungen sein können, desto gesünder werden sie sein.«1Vor ein paar Jahren entwickelte eine Freundin von mir ein Pro-gramm, mit dem Zweitklässlern die Achtsamkeit nahegebracht wurde. Diese jungen Praktizierenden kommentierten ihre Erfah-rungen so: »Achtsamkeit hilft mir, bessere Noten zu bekommen.«»Achtsamkeit hilft mir, mich zu beruhigen, wenn ich mich aufrege. Sie hilft mir auch im Sport und abends beim Ein- schlafen.«»Danke, dass Sie uns Achtsamkeit beigebracht haben. Acht-samkeit hat mein Leben verändert.«»Achtsamkeit beruhigt mich wirklich.«»Achtsamkeit ist das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe.«»Ich liebe Achtsamkeit.«Angesichts der großen Verbreitung, die Achtsamkeit derzeit er-fährt, erscheint es hilfreich, ihre Wurzeln zu ergründen. Woher stammt diese Praxis? In welchem Umfang und in welcher Tiefe kann sie angewendet werden? Wie können wir die transformierende Kraft der Achtsamkeit verstehen, die uns aus den traumähnlichen Mustern unseres Lebens aufzuwecken vermag? Das vorliegende Buch dient zwar vorrangig der Vertiefung des Verständnisses der Achtsamkeit und als ein Leitfaden für die Praxis, doch der Umfang und die Tiefe dieser Lehren können auch im täglichen Leben neue Möglichkeiten und subtile Ebenen der Umsetzung von Achtsam-keit eröffnen.
So wie die Wissenschaft und das Ingenieurwesen der Raumfahrt zu vielen neuen Erfindungen für die Allgemeinheit geführt haben, so kann auch das aus der Meditation hervorgehende klassische tiefe Verständnis zu neuen Praktiken und transformie-renden Erkenntnissen über unser Leben in der Welt führen. Bei einem Abendessen bat mich einmal jemand, mit wenigen Worten zu beschreiben, was Achtsamkeit sei. Phrasen wie »Das Leben im Augenblick« oder »Gegenwärtig sein« mögen zwar ei-nen ersten Eindruck von Achtsamkeit vermitteln, doch die Frage »Was ist Achtsamkeit?« ist ein bisschen so, als würde man fragen: »Was ist Kunst?«, oder: »Was ist Liebe?« Um wirklich die Tiefen von Achtsamkeit auszuloten, müssen wir ein wenig ausholen, und das erfordert Zeit. Die Erfahrung von Achtsamkeit umfasst eine Fülle von Bedeutungen und Nuancen, die unser Leben auf unvorstellbare Weise bereichern können. Die-ses Buch ist ein Versuch, diese Schätze zu heben. Im Satipaṭṭhāna Sutta, der Lehrrede des Buddha über die vier Wege, Achtsamkeit zu entwickeln und zu verankern, finden wir eine große Bandbreite von Anregungen, wie wir den Geist-Kör-per-Prozess verstehen, und verschiedene Methoden, wie wir den Geist von den Ursachen von Leiden befreien können. Es geht da-bei nicht darum, sie alle umzusetzen, und ganz sicher nicht alle gleichzeitig. Der Buddha selbst gab je nach Temperament und Nei-gung seiner Zuhörer unterschiedliche Anweisungen. Doch wenn wir einmal eine grundlegende Praxis haben, die zu uns passt und uns inspiriert, dranzubleiben, können wir unser Verständnis ver-tiefen, indem wir das Feld unseres Hinterfragens erweitern. Dabei kann es passieren, dass uns einzelne Anweisungen dieser Lehrrede zu unterschiedlichen Zeitpunkten besonders berühren und unsere Praxis auf ungeahnte Weise beleben. Der Buddha beginnt diese Lehrrede mit einer erstaunlich küh-nen und unzweideutigen Behauptung: »Dies ist der direkte Weg zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klagen, zum Verschwinden von Schmerz und Trauer, zum Erlan-gen des wahren Weges, zur Verwirklichung von Nibbāna – näm-lich die vier Grundlagen der Achtsamkeit.«2Angesichts des Umfangs und der Bedeutung dieser Behaup-tung – dies ist der direkte Weg zur Befreiung – ist es nützlich, diese Lehrrede genauer zu betrachten und unser Verständnis an-hand der eigenen Worte des Buddha zu vertiefen. Beim Betrach-ten des Suttas stellen wir fest, dass alle Lehren des Buddha darin enthalten sind. Im Zusammenhang mit jedem der vier Wege zur Entwicklung und Verankerung der Achtsamkeit lehrt der Buddha verschiedene Methoden und Techniken, die den Geist befreien. Im Verlauf der Lehrrede legt er diesen erstaunlichen Weg zum Er-wachen vollständig dar. Verschiedene Traditionen des Vipassanā betonen die eine oder die andere Übung, aber jede von ihnen reicht aus, uns zum Ende des Wegs zu bringen. Jede Tür des Dharma, die wir öffnen, führt uns zu allem anderen.
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